Die vergessenen Kinder
Wenn Eltern ihre eigenen Kinder zurücklassen, um im Ausland nach Arbeit zu suchen, sagt dies viel über die Lebensumstände eines Landes aus. Im bitterarmen Moldawien sind 50'000 bis 100'000 Kinder direkt von den Folgen der Arbeitsmigration betroffen und müssen alleine oder bei überforderten Verwandten über die Runde kommen. Das ist die Geschichte von Giuliana, die im Alter von sechs Monaten verlassen wurde.
Giuliana wächst im Dorf Gura Galbenei rund 50 Kilometer südlich der Landeshauptstadt Chișinău auf. Der Bezirk Cimislia zählt neben Ungheni, Criuleni, Balti oder Comrat zu den Regionen mit der höchsten Dichte an Sozialwaisen: Jedes dritte Kind lebt hier ohne leibliche Eltern.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Giulianas Mutter treiben finanzielle Sorgen ins Ausland. Wie gross ihre Not gewesen sein muss, lässt sich nur schwer erahnen. Die damals sechs Monate alte Giuliana gibt sie in die Obhut ihres Bruders Ion und seiner Frau Irina. In den ersten drei Jahren ruft sie ab und zu an und schickt gelegentlich Geld. Als sie dann wieder heiratet, verstummen ihre Anrufe. Heute ist Giuliana elf Jahre alt und besucht die fünfte Klasse. Ihre Schwester und ihren Bruder aus der neuen Familie ihrer Mutter hat sie noch nie gesehen. Nur einmal habe sie ein Bild ihrer 8-jährigen Schwester auf dem Telefon einer Klassenkameradin zu Gesicht bekommen. «Auf dem Foto war sie wunderschön, fröhlich, mit schönen Kleidern.» Giuliana hält einen Moment inne und fährt dann fort: «Ich möchte, dass jedes Kind sein eigenes Haus hat und dort mit seinen richtigen Eltern lebt. Ich möchte, dass jedes Kind alles hat, was es braucht.» Um zu verhindern, dass andere Kinder erleben müssen, was sie erlebt hat, würde die 11-Jährige alle Hebel in Bewegung setzen. Sie würde die wenigen Kleider, die sie besitzt, spenden. Sie würde finanzielle Unterstützung bieten, wenn sie Geld hätte. Und sie würde ein Gesetz erlassen, dass die Eltern zwingt, ihre Kinder nie zu verlassen.
Schulische und soziale Integration
Dank der Projektunterstützung und -aktivitäten hat Giuliana gefunden, mit ihrem Schmerz umzugehen. Sie liest sehr viel und verarbeitet ihre Gedanken und Gefühle in eigenen Texten und Gedichten. In der Schule zählt sie die rumänische Sprache, Literatur, Englisch und Kunst zu ihren Lieblingsfächern. Neben dem offiziellen Unterricht besucht sie regelmässig ausserschulische Aktivitäten und Nachholunterricht - spezielle Angebote innerhalb des Projektes, um Sozialwaisen auf ihrem Bildungsweg und bei der sozialen Integration zu unterstützen. Giuliana schätzt insbesondere die Vielfalt an Materialen, Büchern und Hilfsmitteln. Am liebsten mag sie die Arbeit mit den Tablets. Was viele Kinder als selbstverständlich erachten, ist für die 11-Jährige etwas besonderes. Zu Hause hat sie keinen Zugang zu Kommunikationsmitteln. Ihre Vormunde verfügten zwar über einen Telefon mit Internetanschluss. Dieses dürfe sie jedoch weder benutzen noch berühren. Im Nachholunterricht hat Giuliana viele interessante Dinge gelernt. «Ich weiss, dass jedes Kind Rechte hat. Das Recht auf Spiel, auf medizinische Hilfe oder darauf, vor bösen Menschen geschützt zu werden.»
Probleme gemeinsam überwinden
Ludmila Casian ist Schuldirektorin und Lehrerin in Gura Galbenei. Sie unterrichtet seit 35 Jahren und hat in ihrem Beruf ihre Berufung gefunden. Ihre Haltung gegenüber den Kindern ist stark geprägt von den Erfahrungen und Begegnungen der vergangenen Jahrzehnte: «Alle Schülerinnen und Schüler sind gut, ganz gleich, welche Lese- oder Schreibfähigkeiten sie haben.» Jedes Kind sei wie ein Rätsel, das es zu entschlüsseln gelte. Fest steht für die Lehrerin aber auch, dass sich der verstärkte Migrationsstrom negativ auf die Seelen der Kinder auswirkt und der Mangel an elterlicher Fürsorge Spuren hinterlässt. Dies hat Ludmila Casian auch bei Giuliana beobachtet. Bis zum Start des Projektes im Jahr 2020 sei sie ein sehr schüchternes Mädchen mit schlechten Noten gewesen. «Die ausserschulischen Aktivitäten halfen ihr, selbstbewusster zu werden und sich aktiv in der Klasse einzubringen.» Giuliana entdeckte ihre Liebe für die die rumänische Sprache und begann eigene Gedichte zu schreiben. Wichtig sind in den Augen der Lehrerin auch die regelmässige pädagogische und psychologische Unterstützung: «Dies hat Giuliana geholfen, emotionale Krisen während der Pandemie sowie emotionale Probleme innerhalb der Familie zu überwinden.»